Loslassen – ein einfaches Wort, aber eine große Herausforderung. Wir klammern uns an Menschen, Erinnerungen, Erwartungen, materielle Besitztümer und sogar an alte Verletzungen. Oft aus Angst vor Veränderung oder dem Unbekannten. Doch die östliche Philosophie zeigt uns einen anderen Weg: Wer loslässt, wird nicht ärmer, sondern reicher. Denn erst wenn wir loslassen, haben wir beide Hände frei – frei für neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse und eine tiefere innere Ruhe.

Warum fällt uns das Loslassen so schwer?

Der menschliche Geist ist darauf programmiert, Sicherheit zu suchen. Wir halten an Beziehungen fest, weil sie uns Stabilität geben, an Dingen, weil sie uns ein Gefühl von Identität verleihen, und an Vorstellungen, weil sie unsere Welt verständlich machen. Doch diese Anhaftung kann zur Last werden.

  • Angst vor dem Unbekannten – Was passiert, wenn ich loslasse? Werde ich mich verloren fühlen?
  • Gewohnheit und Komfortzone – Veränderungen sind anstrengend und unbequem.
  • Emotionale Bindung – Erinnerungen und Gefühle binden uns an Vergangenes.
  • Kontrollillusion – Wir glauben, dass wir durch Festhalten das Leben kontrollieren können.

Doch wahre Freiheit beginnt genau dort, wo wir lernen, Dinge so sein zu lassen, wie sie sind, anstatt sie erzwingen zu wollen.

 

Loslassen in der östlichen Philosophie

Die östlichen Weisheitslehren geben uns tiefe Einblicke in die Kunst des Loslassens. Sie zeigen uns, dass es nicht bedeutet, aufzugeben, sondern sich für etwas Größeres zu öffnen.

Taoismus: Mit dem Fluss des Lebens gehen

Der Taoismus, geprägt durch die Lehren von Laozi und seinem Werk „Tao te king“, sieht das Leben als einen natürlichen Fluss (Tao). Das Prinzip des Wu Wei (無為) – das „Nicht-Erzwingen“ oder „Handeln im Einklang mit der Natur“ – zeigt uns, dass Widerstand gegen den natürlichen Wandel nur Leid verursacht.

Eine berühmte taoistische Metapher vergleicht das Leben mit einem Fluss:

  • Wenn du dich gegen die Strömung stemmst, erschöpfst du dich.
  • Wenn du dich treiben lässt, findest du mühelose Leichtigkeit.

Loslassen bedeutet hier, Kontrolle aufzugeben und sich dem natürlichen Lauf des Lebens anzuvertrauen.

Buddhismus: Anhaftung ist die Wurzel des Leidens

Der Buddhismus geht noch tiefer. Buddha lehrte in den Vier Edlen Wahrheiten, dass unser Leiden aus Anhaftung (Upādāna) entsteht. Wir leiden, weil wir ständig nach Vergänglichem greifen – nach Besitz, Beziehungen oder bestimmten Ergebnissen. Doch da alles im Leben unbeständig ist, führt diese Anhaftung zwangsläufig zu Enttäuschung.

Die Lösung? Loslassen durch Erkenntnis und Achtsamkeit.

  • Meditation hilft, Gedanken und Gefühle nicht als fest, sondern als vergänglich zu erkennen.
  • Achtsamkeit (Sati) lehrt uns, den Moment ohne Urteil zu erleben.
  • Mitgefühl (Metta) hilft, sich selbst und andere ohne Erwartungen anzunehmen.

Wer loslässt, gewinnt innere Freiheit und Frieden.

Zen: Jenseits von Gedanken und Konzepten

Die Zen-Philosophie geht noch radikaler vor. Sie fordert uns auf, nicht nur äußere Dinge, sondern auch unser eigenes Selbstbild und unsere Vorstellungen von Realität loszulassen.

Ein berühmtes Zen-Koan fragt:
„Wie schwer ist ein leerer Sack?“

Die Antwort: Er hat kein Gewicht – aber wenn wir ihn voller Gedanken, Ängste und Sorgen stopfen, wird er schwer. Das wahre Loslassen geschieht also im Geist: Gedanken und Vorstellungen kommen und gehen lassen, ohne an ihnen festzuhalten.

 

Praktische Wege zum Loslassen

Loslassen ist keine einmalige Entscheidung, sondern eine tägliche Übung. Hier sind einige bewährte Methoden aus der östlichen Philosophie:

1. Akzeptanz – Die Dinge so annehmen, wie sie sind

Veränderung ist unausweichlich. Anstatt dagegen anzukämpfen, akzeptiere die Realität, wie sie ist. Frage dich: „Kann ich es ändern?“ Wenn nicht, lass es los.

2. Achtsamkeit – Den gegenwärtigen Moment umarmen

Übe dich darin, vollständig im Hier und Jetzt zu sein. Konzentriere dich auf deinen Atem, spüre deinen Körper und beobachte deine Gedanken ohne Bewertung.

3. Minimalismus – Äußeren Ballast abwerfen

Zu viele Dinge binden Energie. Reduziere bewusst deinen Besitz – nicht aus Zwang, sondern aus Freiheit. Jedes Loslassen bringt Leichtigkeit.

4. Vergebung – Emotionale Ketten lösen

Oft halten wir an Groll oder Enttäuschungen fest. Doch Vergebung bedeutet, sich selbst von der Last der Vergangenheit zu befreien.

5. Meditation – Den Geist zur Ruhe bringen

Regelmäßige Meditation hilft, sich von belastenden Gedanken und Emotionen zu lösen. Schon zehn Minuten am Tag können den Geist klären.

Loslassen in der Praxis: Eine kleine Übung

Hier ist eine einfache Übung, um Loslassen bewusst zu üben:

  • Nimm einen kleinen Stein in die Hand.
  • Denke an etwas, das du loslassen möchtest (eine Angst, eine Sorge, eine Erwartung).
  • Spüre das Gewicht des Steins – so wie das Gewicht deiner Anhaftung.
  • Öffne langsam deine Hand und lass den Stein fallen.
  • Beobachte, wie du dich fühlst, wenn du loslässt.

 

Liebe Leserinnen und Leser,

in meiner psychologischen Praxis sehe ich immer wieder, wie befreiend es für Menschen ist, alte Muster loszulassen. Ob es um belastende Gedanken, vergangene Verletzungen oder hinderliche Glaubenssätze geht – oft ist es nicht das Loslassen selbst, das schwerfällt, sondern die Angst davor. Doch mit gezielten Übungen, Achtsamkeit und kompetenter Begleitung kann dieser Prozess sanft und wirkungsvoll gestaltet werden.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor