In unserer hektischen Welt wird oft dazu geraten, einen Moment innezuhalten und nach innen zu schauen, um sich zu beruhigen und wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Die Praxis der Achtsamkeit, sei es durch Meditation oder bewusstes Atmen, kann zweifellos viele positive Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben. Doch was passiert, wenn dieser Blick nach innen selbst zum Problem wird?

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Ein Beispiel aus meiner Praxis

Klientin: Frau Müller (Name geändert), 53 Jahre alt, kommt aufgrund von Stress und übermäßigem Grübeln in meine Psychologische Onlineberatung.

Vorgeschichte und Anliegen: Frau Müller hat in letzter Zeit vermehrt unter starkem Stress und innerer Unruhe gelitten. Sie berichtet, dass sie abends häufig nicht einschlafen kann, da ihr Kopf voller Gedanken ist. Weiterhin klagt sie über Verspannungen im Kiefer und im Nackenbereich.

Empfohlene Intervention: Aufgrund der Symptome und des Anliegens von Frau Müller schlage ich vor, neben der Ursachenforschung zusätzlich Achtsamkeitsübungen einzuführen, insbesondere die Konzentration auf den Atem, um Entspannung zu fördern und den Parasympathikus zu aktivieren. Ich erkläre ihr die Vorteile der Atemübungen und wie sie dazu beitragen kann, den Geist zu beruhigen und den Körper zu entspannen.

Problematische Reaktion: Frau Müller beginnt mit den empfohlenen Atemübungen, jedoch berichtet sie bei der nächsten Sitzung, dass sie Schwierigkeiten beim Atmen und Verspannungen im Brustbereich verspürt. Sie beschreibt, dass das bewusste Beobachten ihres Atems zu einer verstärkten Wahrnehmung ihres Atemmusters geführt hat, was sie nervös macht und ihr das Gefühl gibt, nicht richtig atmen zu können. Dies hat zu einer Zunahme von Verspannungen in ihrem Brustbereich geführt, was sie als sehr unangenehm empfindet.

Meine Anpassung: Angesichts der Reaktion von Frau Müller auf die Atemübungen erkenne ich, dass eine andere Herangehensweise erforderlich ist. Statt sich ausschließlich auf die Atembeobachtung zu konzentrieren, schlage ich vor, dass wir gemeinsam die Achtsamkeit auf äußere Objekte lenken. Dies könnte das Betrachten eines beruhigenden Naturbildes, das Hören entspannender Musik oder das Spüren eines angenehmen Gegenstandes umfassen. Indem sie ihre Aufmerksamkeit nach außen lenkt, kann Frau Müller eine Quelle der Entspannung finden, die weniger mit ihrem Atem verbunden ist und daher ihre Unannehmlichkeiten lindert.

Fazit: Die Reaktion von Frau Müller auf die Atembeobachtung zeigt, dass nicht jede empfohlene Intervention für jeden Menschen geeignet ist. Als Berater ist mir es wichtig, flexibel zu sein und auf die Bedürfnisse und Reaktionen der Klient*innen einzugehen. Durch die Anpassung der Interventionen können wir gemeinsam Wege finden, um ihre Symptome zu lindern und ihre Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern.

Atmen ist etwas, das wir normalerweise automatisch tun, ohne darüber nachzudenken. Doch wenn wir beginnen, unseren Atem bewusst zu beobachten, können wir uns plötzlich auf etwas konzentrieren, das zuvor unbemerkt war. Wir können uns selbst dabei ertappen, wie wir versuchen, unseren Atem zu kontrollieren oder zu verändern, was paradoxerweise zu Anspannung und Stress führen kann, anstatt zu Entspannung.

Ein weiteres Problem bei der Selbstbeobachtung ist die Tendenz, sich in einem endlosen Strom von Gedanken zu verlieren. Anstatt einfach nur zu beobachten, was in unserem Geist vor sich geht, können wir uns in einem Strudel von Selbstkritik, Sorgen und Erwartungen wiederfinden. Statt uns zu beruhigen, können wir uns in einem noch größeren Maß an Unruhe und Angst verlieren.

Es ist wichtig zu erkennen, dass der Zweck der Selbstbeobachtung nicht darin besteht, uns selbst zu beurteilen oder zu verändern, sondern einfach nur, uns bewusst zu machen, was in diesem Moment geschieht. Wenn der Blick nach innen jedoch zum Problem wird, ist es ratsam, sanft und mitfühlend mit sich selbst umzugehen. Anstatt sich über die Gedanken und Gefühle zu ärgern, die auftauchen, können wir lernen, sie einfach als das zu akzeptieren, was sie sind – vorübergehende Phänomene, die kommen und gehen.

Darüber hinaus kann es hilfreich sein, eine gesunde Balance zwischen Selbstbeobachtung und äußerer Aufmerksamkeit zu finden. Indem wir uns sowohl nach innen als auch nach außen richten, können wir ein umfassenderes Verständnis für uns selbst und unsere Umgebung entwickeln.

Liebe Leserinnen und Leser,

der Blick nach innen ist eine wertvolle Praxis, die uns helfen kann, mehr Klarheit und Gelassenheit in unser Leben zu bringen. Doch wie bei allem im Leben ist es wichtig, ein gesundes Maß zu finden und sich nicht in Selbstbeobachtung zu verlieren. Wenn der Blick nach innen zum Problem wird, ist es an der Zeit, sich selbst freundlich zu erinnern: Manchmal ist es genauso wichtig, den Blick nach außen zu richten und das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu genießen.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor