Psychische Erkrankungen und Probleme sind Themen, die uns alle betreffen können. In meiner Arbeit erlebe ich täglich, wie tief die Stigmatisierung noch in unserer Gesellschaft verwurzelt ist – und welche Schmerzen sie verursacht. Ich möchte hier nicht nur über Fakten sprechen, sondern einen ehrlichen, menschlichen Einblick aus meiner Praxis geben.
Was ich in der Beratung erlebe
Viele Menschen kommen zu mir, weil sie mit psychischen Herausforderungen kämpfen. Aber fast genauso oft berichten sie von der Scham, die sie empfinden, überhaupt Hilfe zu suchen. Sie erzählen von Aussagen wie: „Du musst dich nur mehr zusammenreißen.“, „Das bildest du dir ein.“ oder „Du hast doch eigentlich alles, was du brauchst.“ Diese Kommentare treffen tief und lassen die Betroffenen zweifeln – an sich selbst und daran, ob sie überhaupt „das Recht“ haben, sich schlecht zu fühlen.
Ich sehe, wie die Stigmatisierung dazu führt, dass Menschen ihre Probleme verstecken, statt sie anzusprechen. Sie leiden still, oft jahrelang, aus Angst, als „schwach“ abgestempelt zu werden. Dabei brauchen sie genau das Gegenteil: ein offenes Ohr, Verständnis und die Botschaft, dass sie nicht allein sind.
Psychische Probleme sind keine Seltenheit
Jeder Mensch hat irgendwann im Leben mit psychischen Belastungen zu kämpfen. Das können Phasen sein, in denen man sich überfordert, niedergeschlagen oder verloren fühlt. Diese Probleme sind nicht weniger real oder wichtig als klar diagnostizierte psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. Es ist völlig normal, an manchen Tagen nicht stark zu sein – das gehört zum Menschsein dazu.
Ich habe oft erlebt, wie befreiend es für meine Klient*innen ist, das auszusprechen, was sie belastet. Es ist ein erster Schritt, sich einzugestehen: „Ich muss das nicht allein schaffen. Es ist okay, Hilfe anzunehmen.“ Und wissen Sie, was mich jedes Mal bewegt? Der Mut, den diese Menschen aufbringen, obwohl die Gesellschaft oft etwas anderes signalisiert.
Warum Stigmatisierung so schädlich ist
Stigmatisierung hält uns davon ab, offen mit uns selbst und anderen zu sein. Sie sagt: „Du bist falsch, wenn du nicht funktionierst wie alle anderen.“ Dabei gibt es dieses „Normal“ gar nicht. Jeder hat seinen eigenen Weg, sein eigenes Tempo und seine eigenen Kämpfe.
Die Folgen der Stigmatisierung sehe ich in der Praxis immer wieder:
- Menschen fühlen sich einsam und isoliert
- Sie schämen sich für etwas, das sie nicht kontrollieren können
- Viele warten zu lange, bevor sie sich Unterstützung holen – was die Probleme oft verschärft
Diese Scham ist wie ein unsichtbares Gefängnis, das uns davon abhält, frei zu sein und zu heilen.
Was wir gemeinsam tun können
Eines der schönsten Dinge in meinem Beruf ist zu sehen, wie sich Menschen öffnen und mit der Zeit erkennen: „Ich bin nicht mein Problem. Ich bin mehr als das.“ Aber dieser Prozess wird viel leichter, wenn wir als Gesellschaft psychische Gesundheit enttabuisieren.
Hier ein paar Dinge, die wir alle tun können:
- Zuhören, ohne zu bewerten. Manchmal reicht es, einfach da zu sein, ohne Ratschläge zu geben oder zu urteilen
- Offen über eigene Herausforderungen sprechen. Jeder von uns hat schon schwierige Phasen erlebt. Indem wir darüber sprechen, zeigen wir anderen, dass sie nicht allein sind
- Sprache bewusst einsetzen. Worte wie „verrückt“, „labil“ oder „schwach“ können Wunden schlagen. Warum also nicht Worte wählen, die stärken?
- Psychische Gesundheit normalisieren. Sich Hilfe zu suchen, sollte so selbstverständlich sein wie der Gang zum Arzt bei körperlichen Beschwerden
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie selbst mit psychischen Problemen oder Erkrankungen zu kämpfen haben, möchte ich Ihnen Folgendes mit auf den Weg geben: Sie sind nicht allein, und Sie sind nicht weniger wert, nur weil Sie gerade eine schwere Zeit durchmachen. Es ist ein Akt der Stärke, Hilfe zu suchen – kein Zeichen von Schwäche.