In der buddhistischen Psychologie spielt Leid eine zentrale Rolle. Man könnte fast schon sagen, durch das Leiden ist der Buddhismus überhaupt erst entstanden. Siddhartha Gautama, auch als der Buddha bekannt, machte sich vor über 2500 Jahren auf, um das Leiden zu erforschen und einen Weg zu finden, es zu beenden. Die vier edlen Wahrheiten, die in Buddhas erster Lehrrede verkündet wurden, bilden die Grundlage für das Verständnis des Leids (dukkha) im Buddhismus.

Was ist Leid (Dukkha)?

Im Buddhismus bezeichnet „Dukkha“ nicht nur körperliches oder emotionales Leiden, sondern auch eine grundlegende, existenzielle Unzufriedenheit, die alles durchzieht. Diese Unzufriedenheit entsteht, weil das Leben vergänglich ist und sich ständig verändert. Dinge die uns Freude bereiten, sind nicht von Dauer und das Bewusstsein dieser Vergänglichkeit kann uns Angst, Schmerz oder Kummer bereiten. Diese Unbeständigkeit führt dazu, dass nichts im Leben dauerhaft befriedigend ist.

Leid wird im Buddhismus als eine universelle Erfahrung verstanden, die alle Menschen teilen. Ob es sich um den Verlust geliebter Menschen, das Älterwerden, Krankheit oder den Tod handelt – niemand ist vom Leid befreit. Buddha erkannte, dass Leid nicht nur Teil der menschlichen Erfahrung ist, sondern auch eine tiefere Ursache hat, die überwunden werden kann.

Die vier edlen Wahrheiten

Buddha lehrte, dass das Verstehen und Akzeptieren des Leids der erste Schritt zur Befreiung ist. Diese Einsicht brachte er in Form der „vier edlen Wahrheiten“:

  1. Die Wahrheit des Leidens (Dukkha): Alles Dasein ist mit Leid verbunden. Es gibt körperliches Leid (Schmerzen, Krankheit), emotionales Leid (Trauer, Enttäuschung), aber auch subtilere Formen wie das ständige Streben nach Befriedigung, die nie vollständig erreicht wird.

     

  2. Die Wahrheit von der Ursache des Leidens (Samudaya): Die Ursache des Leidens ist „Tanha“, oft als Gier oder Verlangen übersetzt. Dieses Verlangen äußert sich in verschiedenen Formen: der Gier nach materiellen Dingen, dem Verlangen nach Anerkennung oder Macht, aber auch dem Streben nach einem perfekten Selbstbild. Tanha entspringt einer grundlegenden Unwissenheit über die wahre Natur der Wirklichkeit.

     

  3. Die Wahrheit von der Beendigung des Leidens (Nirodha): Leid kann überwunden werden. Dies geschieht, wenn wir das Verlangen loslassen und damit die Wurzeln des Leids ausreißen. Dieser Zustand wird als „Nirvana“ bezeichnet, ein Zustand des völligen Friedens und der Freiheit von Gier, Hass und Unwissenheit.

     

  4. Der Pfad, der zur Beendigung des Leidens führt (Magga): Der Weg zur Überwindung des Leidens ist der „Edle Achtfache Pfad“, der eine Lebensweise beschreibt, die ethisches Verhalten, Meditation und Weisheit verbindet. Der Pfad hilft, die geistigen und emotionalen Ursachen des Leids zu durchbrechen und ein Leben in Harmonie zu führen.

Die Ursachen des Leidens: Gier, Hass und Unwissenheit

Im Buddhismus gelten Gier, Hass und Unwissenheit als die drei „Geistesgifte“, die das Leid hervorrufen. Diese Zustände treiben uns an, in ungesunden Mustern zu denken und zu handeln, die zu weiterer Unzufriedenheit führen. Gier lässt uns an Vergänglichem festhalten, während Hass uns in Konflikte verwickelt und Unwissenheit uns daran hindert, die Realität klar zu sehen.

Diese Geistesgifte schaffen ein „Rad des Leidens“ – einen Kreislauf, in dem wir immer wieder in schmerzhaften Situationen und Reaktionen gefangen sind. Der Weg zur Befreiung besteht darin, diese negativen Zustände zu erkennen und sie durch achtsames Leben, Mitgefühl und Weisheit zu überwinden.

Der Edle Achtfache Pfad: Der Weg zur Befreiung vom Leid

Der Edle Achtfache Pfad zeigt einen praktischen Weg, um das Leid zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen. Die acht Aspekte dieses Pfades sind:

  1. Rechte Ansicht: Das Verstehen der vier edlen Wahrheiten und der Natur des Leids.
  2. Rechte Absicht: Die Absicht, gierlos, liebevoll und gewaltfrei zu handeln.
  3. Rechte Rede: Wahrhaftig, freundlich und respektvoll kommunizieren.
  4. Rechtes Handeln: Moralisches Verhalten durch Mitgefühl und Rücksichtnahme.
  5. Rechter Lebenserwerb: Ein ethischer Lebensunterhalt, der anderen keinen Schaden zufügt.
  6. Rechtes Bemühen: Sich kontinuierlich bemühen, negative Geisteszustände zu überwinden und positive zu fördern.
  7. Rechte Achtsamkeit: Ein bewusster, gegenwärtiger Umgang mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Handlungen.
  8. Rechte Sammlung: Meditation und Konzentration, um den Geist zu beruhigen und zu klären.

 

Liebe Leserinnen und Leser,

die buddhistische Psychologie bietet uns einen tiefen Einblick in den Umgang mit Leid und dessen Ursachen. Indem sie uns lehrt, die Natur des Daseins zu verstehen und die Verstrickungen des Geistes zu erkennen, eröffnet sie einen Weg zur Befreiung von unnötigem Leiden. Durch Achtsamkeit, Mitgefühl und das Streben nach innerem Frieden können wir lernen, Leid nicht als eine unvermeidbare Last, sondern als einen Teil des menschlichen Lebens anzunehmen. Auf diese Weise öffnen sich Tore zu einem erfüllteren und tieferen Sein.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor