Viele Menschen erleben Konflikte als bedrohlich. Als etwas, das stört, Unruhe bringt oder verletzt. Instinktiv streben wir nach Harmonie – innerlich wie äußerlich. Und das ist verständlich: Harmonie vermittelt Sicherheit, Zugehörigkeit, Stabilität. Doch Konflikte sind Teil unseres Lebens. Sie entstehen überall dort, wo Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Erwartungen oder Grenzen aufeinandertreffen – also immer dann, wenn Beziehung lebendig ist.

Ein Konflikt ist kein Zeichen von Scheitern. Sondern ein Ausdruck von Lebendigkeit.

In Konflikten zeigen sich oft nicht nur Missverständnisse, sondern auch verdeckte Themen: Unerhörtes, Ungesagtes, Ungesehenes. Vieles davon wirkt im Untergrund weiter, wenn wir Konflikten aus dem Weg gehen – auch wenn es scheinbar „ruhig“ ist.

 

Schutzstrategien: Wie wir versuchen, Konflikte zu vermeiden

Der Umgang mit Konflikten wird oft unbewusst gelernt – durch frühe Erfahrungen, durch kulturelle Prägung, durch das, was uns vorgelebt wurde. Diese Muster wirken oft noch im Erwachsenenleben weiter:

🔹 Flucht:
Sie ziehen sich zurück, sprechen Dinge nicht an, vermeiden bestimmte Personen oder Situationen. Manchmal zeigt sich diese Form der Flucht auch auf struktureller Ebene – etwa, indem Sie eine Beziehung beenden oder den Arbeitsplatz wechseln, ohne die zugrunde liegenden Spannungen wirklich anzuschauen. Das schützt Sie kurzfristig vor Schmerz oder Überforderung – aber oft bleiben alte Muster bestehen und wiederholen sich an neuer Stelle.

🔹 Beschwichtigung:
Sie geben nach, obwohl Sie innerlich eine Grenze spüren. Sie übernehmen Verantwortung für die Gefühle anderer, um den Frieden zu wahren. Doch dabei verlieren Sie leicht den Kontakt zu sich selbst.

🔹 Konfrontation ohne Verbindung:
Sie gehen in den Widerstand, werden laut, fordernd oder verletzend. Sie kämpfen – vielleicht aus einem alten Impuls heraus, sich behaupten zu müssen. Doch auch hier bleibt die echte Begegnung aus.

Diese Strategien sind nicht „falsch“. Sie haben Ihnen oft geholfen, in schwierigen oder sogar bedrohlichen Situationen zurechtzukommen. Die Frage ist nur: Dienen sie Ihnen heute noch? Oder engen sie Sie eher ein?

 

Konflikte bewusst aushalten: Ein anderer Weg

Konflikte bewusst auszuhalten heißt nicht, sie passiv zu ertragen. Es heißt, in der Spannung zu bleiben – ohne sich selbst zu verlieren. Es bedeutet, zwischen Impuls und Reaktion eine kleine Pause zu schaffen. Genau in diesem Zwischenraum liegt die Chance auf etwas Neues.

 

Was hilft in solchen Momenten?

🔸 Selbstbeobachtung:
Was genau triggert Sie gerade? Was fühlen Sie – unter der Wut, unter dem Rückzug, unter dem Wunsch, zu gefallen?

🔸 Emotionale Erdung:
Wie können Sie sich beruhigen, ohne zu unterdrücken? Atmung, Körperwahrnehmung, innere Distanz – sie helfen Ihnen, nicht sofort im Automatismus zu handeln.

🔸 Innere Klärung:
Was wollen Sie in diesem Konflikt wirklich ausdrücken? Was ist Ihr Bedürfnis – jenseits von Schuld oder Schuldzuweisung?

🔸 Mut zur Ambivalenz:
Nicht jede Spannung lässt sich sofort auflösen. Manchmal ist der erste Schritt, einfach dazubleiben – präsent, offen, im Kontakt mit sich selbst.

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn wir lernen, Konflikte nicht zu vermeiden, sondern sie als Teil unseres Lebens zu akzeptieren, passiert etwas Erstaunliches: Wir werden freier. Authentischer. Klarer. Wir beginnen, unsere Grenzen zu spüren – und gleichzeitig die der anderen zu achten. Wir müssen uns nicht mehr verbiegen, um „nett“ zu sein. Und wir müssen auch nicht über andere hinweggehen, um stark zu sein.

Reife zeigt sich nicht darin, Konflikte zu vermeiden – sondern darin, wie wir mit ihnen umgehen.

Vielleicht ist echte Verbundenheit nicht das dauerhafte Fehlen von Spannung –sondern die Fähigkeit, auch im Konflikt in Beziehung zu bleiben.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor