Viele Menschen definieren sich über das, was sie tun oder welche Rolle sie in ihrem Umfeld spielen. Eine Mutter empfindet ihre Aufgabe, die Kinder großzuziehen, als Lebensinhalt. Ein Mann sieht sich vielleicht vor allem als erfolgreicher Berufstätiger. Auch ein Sportler identifiziert sich stark mit seiner Leistung im Wettkampf, während jemand anderes durch sein Hobby, etwa das Malen oder das Gärtnern, eine tiefe Erfüllung erlebt. Doch was passiert, wenn diese Rollen sich verändern oder plötzlich wegfallen? Ein Sportler verletzt sich und kann nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen. Die Mutter hat plötzlich keine Kinder mehr im Haus, der Berufstätige geht in den Ruhestand. Dann entsteht oft eine tiefe Leere, die Fragen aufwirft: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr diese Rolle ausfülle?

 

Identifikation durch Rollen – Warum sie so wichtig ist

Unsere Identität setzt sich aus vielen Bausteinen zusammen. Eine große Rolle spielen dabei die Aufgaben und Positionen, die wir im Leben übernehmen. Rollen geben uns:

  • Struktur: Ein klarer Alltag und feste Verantwortlichkeiten.
  • Sinn: Das Gefühl, gebraucht zu werden.
  • Zugehörigkeit: Ein Platz in der Gesellschaft oder in der Familie.
  • Selbstwert: Bestätigung und Anerkennung für das, was wir leisten.

Doch was passiert, wenn diese Rollen sich auflösen? Genau dann wird deutlich, wie stark unsere Identität daran geknüpft war.

 

Wenn die Rolle wegfällt – typische Lebenssituationen und ihre Herausforderungen

Elternschaft: Wenn die Kinder aus dem Haus sind

Viele Mütter (und auch Väter) definieren sich über die Erziehung ihrer Kinder. Doch wenn die Kinder erwachsen werden und ihr eigenes Leben führen, bleibt oft ein Gefühl der Leere zurück. Dieses Phänomen wird als „Empty-Nest-Syndrom“ bezeichnet. Häufige Gefühle sind:

  • Sinnverlust: „Wofür werde ich jetzt gebraucht?“
  • Identitätskrise: „Wer bin ich, wenn ich nicht mehr ‚Mutter‘ bin?“
  • Beziehungskrisen: Partnerschaften werden auf die Probe gestellt, wenn die gemeinsame Aufgabe „Kind“ wegfällt.

 

Beruf und Ruhestand: Wenn die Karriere endet

Viele Menschen, besonders Männer, definieren sich über ihren Beruf. Der Job gibt Struktur, Anerkennung und das Gefühl, wichtig zu sein. Doch was geschieht, wenn der Ruhestand beginnt oder der Job durch Arbeitslosigkeit verloren geht? Häufige Folgen sind:

  • Gefühl der Nutzlosigkeit: „Niemand braucht meine Fähigkeiten mehr.“
  • Soziale Isolation: Kolleginnen und Kollegen fehlen im Alltag.
  • Identitätsverlust: „Ohne meinen Beruf – wer bin ich dann?“

 

Partnerschaft: Wenn eine Beziehung zerbricht

Auch die Rolle als Partnerin oder Partner ist ein wichtiger Teil unserer Identität. Eine Trennung oder der Verlust eines geliebten Menschen reißt oft nicht nur ein emotionales Loch, sondern auch eine Lücke in das Selbstbild:

  • Neuorientierung: „Wer bin ich ohne ihn/sie?“
  • Verlust der Lebensplanung: „Unsere gemeinsamen Träume sind zerbrochen.“
  • Einsamkeit: Besonders nach langen Beziehungen ist es schwer, sich selbst wiederzufinden.

 

Warum der Verlust der Rolle so schmerzhaft ist

Die plötzliche Leere nach dem Wegfall einer wichtigen Rolle entsteht, weil wir unsere Identität oft zu sehr an diese eine Aufgabe geknüpft haben. Wir „sind“ dann die Mutter, der Manager, die Ehefrau – statt jemand zu sein, der diese Rolle ausfüllt.

Das Problem: Wenn wir unsere Identität auf nur eine Säule stützen, bricht unser Selbstbild zusammen, wenn diese Säule wegfällt.

 

Wie man nach dem Rollenverlust neue Perspektiven findet

  1. Akzeptanz und Trauer zulassen

Es ist normal, nach dem Verlust einer Rolle Trauer, Orientierungslosigkeit oder sogar Wut zu empfinden. Gefühle sollten nicht unterdrückt, sondern durchlebt werden. Akzeptanz ist der erste Schritt zur Veränderung.

  1. Neue Rollen und Aufgaben entdecken

Das Ende einer Rolle bedeutet gleichzeitig den Beginn neuer Möglichkeiten:

  • Nach dem Auszug der Kinder: Neues Hobby, Ehrenamt oder verstärkte Paarzeit.
  • Nach dem Berufsleben: Mentoring, Weiterbildung oder ein neues Projekt.
  • Nach einer Trennung: Neue Freundschaften, Reisen oder persönliche Weiterentwicklung.
  1. Selbstbild erweitern: Mehr als nur eine Rolle sein

Eine gesunde Identität besteht aus mehreren Säulen. Wer sich nicht nur über eine Rolle definiert, bleibt flexibler bei Veränderungen. Wichtig ist: Was kann ich, was liebe ich, was macht mich aus – unabhängig von meinen Aufgaben?

  1. Gemeinschaft suchen

Nach dem Verlust einer Rolle fühlen sich viele isoliert. Der Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kann tröstlich sein. Selbsthilfegruppen, Vereine oder ehrenamtliche Tätigkeiten bieten neue Kontakte und Aufgaben.

  1. Werte definieren

Anstatt sich nur an äußeren Zielen zu orientieren, kann es hilfreich sein, sich auf die eigenen Werte zu besinnen. Was ist einem wirklich wichtig im Leben? Integrität, Freundschaft, Kreativität oder Verantwortung – diese Werte können als Orientierung dienen, um einen neuen Lebensweg zu finden und den Alltag mit Sinn zu füllen.

Liebe Leserinnen und Leser,

Rollen sind ein bedeutender Teil unserer Identität, aber sie definieren nicht unser ganzes Wesen. Wenn eine Rolle endet, kann das schmerzhaft sein – aber es ist auch eine Chance. Die Chance, neue Seiten an sich selbst zu entdecken, neue Leidenschaften zu finden und ein Selbstbild zu entwickeln, das unabhängig von äußeren Umständen besteht.

Wer sind Sie – jenseits Ihrer Rollen? Und was würden Sie tun, wenn Ihre gewohnten Aufgaben morgen wegfielen?

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor